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Die Flucht in den Bunker – Erstmals wurde ein Atombunker Zuflucht für elektrohypersensibele Menschen

Künzell. Fast mutet es wie ein Kegeltreffen an, im Keller des Künzeller Gemeindezentrums nahe bei Fulda. Der ehemalige Atombunker wurde nach Ende des Kalten Krieges zur veritablen Kegelbahn umgebaut. Aber ein Nutzungsvorteil blieb, denn der Keller ist immer noch strahlensicher. Und das ist der eigentliche Grund, der ganz unterschiedliche Menschen dazu bewogen hat, für vier Tage in einen Atombunker zu ziehen. Denn alle Teilnehmer haben das gleiche Problem: Sie sind elektrohypersensibel (EHS), sie spüren hoch- und niederfrequente Strahlung und leiden darunter sehr.

Vor Jahren wurde diese Krankheit noch belächelt, Patienten nicht selten von ihren Ärzten schlicht für verrückt erklärt. Doch diese Ansicht ändert sich, denn die Symptome der Sensibilität werden in den Arztpraxen auf Grund des massiven Ausbaus der Mobilfunknetze immer häufiger gezählt. Schlafstörungen, inneres Vibrieren wie unter Strom, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Herzrasen, Wortfindungsstörungen, Depressionen, Burnout, Verstimmungen, Allergien/Immunschwäche, Bluthochdruck, Verhaltens- und Lernstörungen , Hyperaktivität bei Kindern und Jugendlichen… die Liste der Beschwerden ist lang.

Unter den Schutzsuchenden im Künzeller Bunker ist die 44-jährige Ulrike Ziegenhorn (Foto li.) aus Erfurt. Die gelernte Krankenschwester und Ergotherapeutin ist auf Grund massiver Auswirkungen der Strahlung auf ihre Gesundheit frühverrentet. Diagnose EHS. „Ich kann nicht am normalen Leben teilhaben, nicht spontan vor die Tür, nicht einfach mal einkaufen, sonst fangen die Beschwerden sofort an“. Freunde mussten sie schon öfter an strahlungsarmen Plätzen in den Wald fahren, um sie zu schützen. Sogar im tiefen Winter schlief sie dort in einem Zelt. Ihr wurde anfangs ein Herzschrittmacher empfohlen, da die gemessenen Herzrhythmusstörungen lebensbedrohlich wurden. In strahlungsarmen Gebieten verschwanden aber die umfangreichen Beschwerden immer. So wie jetzt im Künzeller Bunker. Schon am zweiten Tag konnte sie ihre Schutzkleidung gegen normale Bekleidung tauschen. Keine Schmerzen, keine Beschwerden, endlich richtig schlafen. „Die Plätze, an denen ich mich aufhalten kann, werden aber immer weniger und kleiner“, so die junge Frührentnerin.

Der Ausbau der Funknetze durch neue Standards wie LTE geht ungebremst weiter. Erst kürzlich wurde das Ergebnis einer Studie des Instituts für Mobil- und Satellitenfunktechnik (IMST) bekannt: „Die statistische Auswertung zeigt, dass an den untersuchten Messpunkten die Gesamtimmission durch den Regelbetrieb der LTE-Netze im Mittel um etwa 40 Prozent angestiegen ist“. Und auch der Ausbau des neuen digitalen Behördenfunks TETRA, der eine Abdeckung von 97% erreichen will, bedroht das Lebensumfeld elektrosensibler Menschen.

Das bundesweit erstmalige Öffnen eines Atombunkers zur Regeneration Elektrosmog-erkrankten Personen kam durch den Verein „Weiße Zone Rhön e.V. zustande, der Künzeller Bürgermeister Peter Meinecke (CDU) war schnell überzeugt. Die  Initiative der elektrosensibler Menschen begleitet die Aktion. Ihr Sprecher Klaus Schuhmacher fordert: „Die Betroffenen leiden teilweise schon seit Jahren und sind mittlerweile durch die zunehmende Belastung, auch durch den flächendeckenden Ausbau des LTE-Mobilfunknetzes und des digitalen TETRA-Behördenfunkes an körperliche Grenzen gelangt“. Die Gruppe der Funkflüchtigen wird von Dr. Cornelia Waldmann-Selsam, einer Ärztin aus Bamberg begleitet. Seit Jahren sammelt sie Kasuistiken, also Fallbeispiele betroffener Menschen. Sie ist Mitverfasserin des Bamberger Ärzteappells von 2004, der die Senkung der Grenzwerte und der Funkbelastung fordert. Eine Senkung der Grenzwerte fordert auch das Europaparlament 2009. Bisher geschah nichts.

In einer Studie der Universität Bielefeld 2010 kam heraus,  dass rund 27 % der Bevölkerung auf Grund von elektromagnetischen Feldern (EMF) des Mobilfunks um ihre Gesundheit besorgt sind, 9 % fühlen sich sogar gesundheitlich beeinträchtigt. Ein Drittel der Ärzte halten der Studie zufolge Mobilfunksendeanlagen für besorgniserregend, bei Ärzten mit alternativmedizinischer Weiterbildung ist es sogar deutlich über die Hälfte.

Die österreichische Ärztekammer äußerte 2012 den Verdacht „dass Umweltbedingungen wie etwa die zunehmende Exposition der Bevölkerung gegenüber Funkwellen, z.B. von schnurlosen Telefonen, Mobilfunksendern, Handys, GPRS-,UMTS-Datenkarten für Laptops/Notebooks und Wireless LAN (WLAN) aber auch gegenüber elektrischen und magnetischen Feldern, die von Leitungen, Geräten und Anlagen ausgehen, ursächlich an Beschwerden ohne erkennbaren Ursachen beteiligt ist …“. So deutlich kann man sich in Deutschland noch nicht positionieren, jedenfalls nicht öffentlich. Immerhin können Ärzte seit März 2013 in Deutschland Behandlungen, die durch  Expositionen gegenüber Strahlung nötig werden, ordentlich mit den Krankenkassen abrechnen. Eine faktische Anerkennung des Krankheitsbildes EHS.

Warnungen gibt es immer wieder, aber meist zaghaft oder verklausuliert. Nur selten werden Äußerungen wie die der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Mobilfunkstrahlung inzwischen als für den Menschen möglicherweise krebserregend einstuft, bekannt. Die europäische Umweltagentur vergleicht das Zögern der Politik inzwischen mit den Fehlern bei Asbest und Nikotin. Das höchste beschlussfassende Gremium der EU forderte im Mai 2011 alle europäischen Regierungen zu einer Wende in der Mobilfunkpolitik auf. Sie sollten die Strahlenbelastung reduzieren und elektrosensiblen Menschen sogenannte Weiße Zonen, funkfreie Gebiete, zur Verfügung stellen. Genau diese Weiße Zonen werden von den Künzeller Bunker-Flüchtlingen vermisst. Deshalb nahmen sie die Einladung des Künzeller Bürgermeisters Peter Meinecke (CDU), im Künzeller Bunker eine Zeit funkfrei zu regenerieren, dankend an.

Durch den flächendeckenden Ausbau existieren kaum noch Nischen, in denen sich die Menschen zurückziehen können, „weiße Zonen, wie von WHO und Europarat schon 2011 gefordert, existieren immer noch nicht“ so Klaus Schuhmacher. Und Dr. Waldmann-Selsam ergänzt: „Wer mit offenen Augen durch den Ort läuft, wird im Umfeld von Mobilfunksendeanlagen Schäden an Bäumen feststellen können. Es ist so offensichtlich“. Die Ärztin befasst sich seit mehreren Jahren mit den Auswirkungen der Strahlung auf Bäume und erklärt warum: „Immer wieder hört man die Auffassung, nur allein die Angst vor Mobilfunkstrahlung mache krank. Nun, Bäume haben keine Angst, sie reagieren aber deutlich auf Elektrosmog“ und zeigt bundesweit dokumentierte Fälle.

Der Einzug in den Künzeller Atombunker sehen die Teilnehmer  als dringenden Appell an alle Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, umgehend Rückzugsgebiete für EHS-Betroffene zu schaffen und auch im Interesse nachfolgender Generationen eine umfassende Senkung der Strahlenbelastung durch elektromagnetische Felder  wie z.B. Mobilfunknetze und WLAN-Geräte durchzusetzen. (Text & Fotos: Markus Hofmann)

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