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Landrat Görig will neue Konzepte nicht nur in der Jugendhilfe, sondern auch in der Behindertenhilfe

Professor Dr. Wolfgang Hinte sagt: „Kein Mensch ist nur hilfsbedürftig“. Vielmehr plädiert er für einen klaren Blick auf die Ressourcen der Menschen und auf die (gestaltbaren) Bedingungen, die um den Hilfsbedürftigen herum herrschen. Letzteres nennt der renommierte Sozialwissenschaftler „Sozialraumorientierung“. Hinte war Hauptredner während einer Fachtagung in der Lauterbacher Sparkassen-Aula.

Die Vogelsberger Jugendhilfe hat sich bereits in Sachen „Sozialraumorientierung“ auf den Weg gemacht. In der Arbeitsgemeinschaft der fachlichen Leiter psychiatrischer Einrichtungen und Dienste (AGFL) hatte man sich die Frage gestellt, ob dieser Ansatz auch für die Zukunft der Behindertenhilfe Lösungen bieten kann. Um darauf antworten zu finden, konnte die AGFL keinen Geringeren als Professor Dr. Hinte gewinnen, der im deutschsprachigen Raum als „Vater der Sozialraumorientierung“ gilt.

Hans Dieter Herget, Sachgebietsleiter im Amt für Soziale Sicherung und Geschäftsführer der AGFL freute sich, dass neben Landrat Manfred Görig über 160 Fachleute aus der Vogelsberger Sozialarbeit in die Lauterbacher Sparkassen-Aula gekommen waren. An den Vortrag von Professor Hinte schlossen sich am Nachmittag Workshops an.

Haltungswechsel in der sozialen Arbeit

In seinem inhaltlich komplexen und dennoch außerordentlich kurzweiligen Vortrag warb Hinte für einen Haltungswechsel in der sozialen Arbeit. Seine Kernthese: Menschen, die Hilfe von Fachleuten brauchen, wollen zu allererst ernst genommen werden. Sie wollen selbst ihre Möglichkeiten gestalten und nicht ein Konzept oder eine Maßnahme „übergestülpt“ bekommen.

„Das Wichtigste ist, dass sich alle Beteiligten auf eine gemeinsame Haltung einigen“, sagte Prof. Hinte. Alles Weitere – Strukturen, Maßnahmen, Gremien und Kosten – folge erst in den nächsten Schritten. Deutlich wies der Sozialarbeits-Wissenschaftler das „Sozialarbeiter-Motto“ der 1970-er Jahre zurück, man müsse den Klienten „da abholen, wo er steht“. Das sei „dunkle Pädagogik“. Vielmehr gehe es um das „Ernstnehmen“, um den tatsächlichen Willen der Betroffenen, die Hilfe suchten. Dieser Wille werde zur wesentlichen Kraft für Veränderungen, Verbesserungen und fürs Unabhängig-Machen von staatlicher Förderung.

Menschen kann man nicht verändern – Rahmenbedingungen schon

Prof. Hinte plädierte nachdrücklich dafür, die Rahmenbedingungen – also den „Sozialraum“ – zu gestalten und zu verändern. Ein Verändern von Menschen hingegen hält er für „praktisch unmöglich“. Dieser realistische Blick erfordere bei den Fachleuten „ein inneres Radar“, ein feines Sensorium dafür, was „wirklich“ in dem Klienten vorgeht. Es gehe genau nicht um „Wünsche erfüllen“, sondern darum, den Willen des Betroffenen zum Schwungrad werden zu lassen. Auch wenn dies zunächst auch einmal unkonventionell aussehen könnte. Und natürlich müsse das „ordentlich mit den Möglichkeiten in der Realität“ abgeglichen werden. Es gehe nicht um „Betreuung“ im bisherigen Sinne, sondern es gelte, mit den Menschen realistische Ziele zu vereinbaren. Große Ziele und ganz kleine. Das führe nicht zuletzt dazu, dass das Gefühl einkehre, selbst etwas geleistet zu haben und dass Menschen ihre Würde behielten.

Landrat Görig: Der Ansatz ist richtig

Landrat Manfred Görig hält als Sozialdezernent Prof. Hintes Ansatz der „Sozialraumorientierung“ grundsätzlich für richtig. Aktivierung statt Betreuung, den Sozialraum mit seinen Möglichkeiten neu erkennen und weiterentwickeln, Arrangements schaffen, statt „Angebote überstülpen“, Zielgruppen-übergreifend handeln – dies alles schaffe für die Fachleute mehr Horizont, mehr Kommunikation und Kompetenz.

Kooperation statt Konkurrenz zwischen den Anbietern sozialer Hilfen müsse zudem als Leitsatz gelten. Denn, so Prof. Hinte: „Markt versagt an so vielen Stellen – und im Sozialbereich hat Markt überhaupt nichts zu suchen.“ Markt sei hier weder im Interesse der Klienten noch im Interesse der Steuerzahler.

Am Schluss seines Vortrages riet Prof. Hinte zur Besonnenheit und Geduld: „Das braucht Zeit. Damit es gut wird und von allen auch wirklich vertrauensvoll mitgetragen wird, muss man sich auf zehn Jahre insgesamt einstellen.“ Er fügte an: „Weil es im Vogelsbergkreis schon jetzt so gut läuft – sagen wir: acht Jahre …“. Mit dieser Botschaft gingen die Teilnehmer in die Workshops am Nachmittag. Hier wurden wichtige Aspekte zusammengetragen, die für die weiteren Schritte, hin zur „Sozialraumorientierung“ auch im Behindertenbereich wichtig sind.

Moderatorin Annelore Hermes vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Hessen sowie Harry Bernardis (Vogelsberger Lebensräume) und Helmut Benner (Jugendamt) brachten zum Ausdruck, dass der Vogelsbergkreis bereits jetzt weiter sei als andere, was die bewusste Haltungsänderung gegenüber den Klienten angeht. „Die Idee ist jetzt für alle im Raum“, beschrieb Bernardis die neuen Möglichkeiten, zielgruppengerecht neue Formen der Zusammenarbeit von Landkreis und freien Trägern zu wagen.

Professor Dr. Wolfgang Hinte leitet das Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) an der Uni Duisburg-Essen.

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