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„Flüchtige Seelen“ – Menschen mit Traumata und Träumen

Im Saal des Innovationszentrums in Ulrichstein gab es keine freien Plätze mehr: Renate Lackner, Sprecherin der Osthessischen Initiative gegen Gewalt im Namen der Ehre und Mitorganisatorin des Fachtages, konnte rund 160 Fachleute zur Veranstaltung mit dem Titel „Flüchtige Seelen – Menschen mit Traumata und Träumen“ begrüßen. Die Themenschwerpunkte „Lebenswirklichkeit von Menschen mit Fluchtgeschichten“, „transkulturelle Aspekte bei Traumatisierungen“ und „Schutzkonzepte vor geschlechtsspezifischer Gewalt“ wurden in Vorträgen und Workshops behandelt. Schon das zur Einstimmung vorgetragene persönliche Gedicht von Maryam Abbasi und die von Traudi Schlitt (Evangelisches Dekanat Alsfeld) sehr einfühlsam vorgetragene Leidens- und Fluchtgeschichte waren sehr bewegend.

Maryam Abbasi lebt heute in Fulda und holt ihr Abitur nach. Sie sprach in ihrem Gedicht von den Träumen Flüchtender, von dem Wunsch, dass eines Tages alles irgendwann wieder gut und friedlich sein wird. Die Fluchtgeschichte der jungen afghanischen Frau, die Traudi Schlitt vortrug, beginnt im Iran mit einer Zwangsheirat im Alter von 14 Jahren und der Scheidung vom gewalttätigen Ehemann, der ihr mit einem Tritt in den schwangeren Bauch das ungeborene Kind nimmt. „Kind, jetzt hast du wirklich ein Problem“, hört sie von ihrer Familie nach der Scheidung. Und in der Tat: Der Ex-Mann verfolgt sie und ihre Familie, droht Gewalt und sogar die Tötung von Familienmitgliedern an. Die junge Frau flieht mit einem Teil der Familie über unzählige Stationen bis nach Norwegen, wo man sie als „Dublin-Fall“ nach fünf Jahren zurück nach Griechenland schicken will. Dazwischen liegen weitere „kleine Fluchten“, auch Gefängnisaufenthalte. Heute lebt sie in Deutschland – noch immer in Angst, zurück geschickt zu werden. Sie ist Norwegen zum christlichen Glauben konvertiert – nicht auszudenken, wie es nach einer Rückkehr nach Afghanistan weiter ginge.

Ein bewegendes Einzelschicksal, das in dieser Zeit leider kein Einzelschicksal ist sondern den Fachleuten, die mit Flüchtlingen und traumatisierten Menschen zu tun haben, tausendfach begegnet. „Was soll man sagen nach einer solch bewegenden Geschichte“, schloss Vizelandrat Dr. Jens Mischak daran an, „hier geht es heute genau um solche Einzelschicksale, nicht um Zahlen, Geld oder Obergrenzen für Flüchtlinge. Das ist ein Kontrapunkt zu den aktuellen Diskussionen und dem Suchen nach einfachen Antworten.“ Er begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachtags in der höchstgelegenen Stadt Hessens und wünschte allen einen erfüllten Tag. Sein Dank galt den Organisatorinnen aus den Fachstellen der Kreisverwaltung und der Osthessischen Initiative gegen Gewalt im Namen der Ehre.

Cornelia Schonhart von der Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt im Hessischen Justizministerium prophezeite: „Wir sind mit vielen Fragen zu diesen aktuellen Themen hergekommen, und wir werden auch mit vielen – vielleicht anderen – Fragen wieder rausgehen“. Sie hatte erschreckende Zahlen im Gepäck: Die Zahl polizeibekannter Fälle häuslicher Gewalt liege in Hessen seit Jahren bei rund siebeneinhalb Tausend, 85 Prozent der Opfer seien weiblich. „Wir haben aber noch eine weitere Zahl: Im vergangenen Jahr waren am Tatort der häuslichen Gewalt über fünftausend Minderjährige“, so Schonhart, „und diese Kinder und Jugendlichen wohnen dort und bleiben im gewalttätigen Umfeld.“ Daher habe man verstärkt diese Kinder und Jugendlichen in den Blick genommen und betreibe zusätzliche Täterarbeit zum Schutz der Opfer. Ein häufiges Problem stelle für Flüchtlinge allerdings der Zugang zu Hilfsangeboten dar, sagte sie abschließend und unterstrich die Wichtigkeit eines solchen Fachtages für die theoretische Auffrischung aber auch die Intensivierung von Wissen.

Edibe Hertel, Religionswissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Hochschule Fulda, ist zugleich stellvertretende Vorsitzende des Vereins Maalula, der Christen in Syrien unterstützt. Sie gab in ihrem Vortrag „Flucht aus dem Bürgerkrieg – Traum und Wirklichkeit“ einen fundierten Einblick in Entstehung und Entwicklung des Bürgerkriegs in Syrien. Am Anfang standen friedliche Proteste im Jahr 2011 und die Demonstrierenden proklamierten „Wir wollen keine Einmischung von außen“ – „Doch genau diese Einmischung kam sehr schnell und von allen Seiten“, erklärte Hertel dann anhand von Karten, die nicht nur zeigten, in welchen Gebieten welche Gruppierung vorherrscht. Sie zeigte auch auf, welche Staaten und Gruppierungen miteinander arbeiten und welche gegeneinander vorgehen. Religions- und ethnische Strukturen sowie Gruppierungen und die Einflüsse ausländischer Kräfte auf syrischem Boden, die Fluchtwege, Träume und Erwartungen der Geflüchteten waren Themen ihres Vortrags. „Die Folgen des Bürgerkriegs sind mehr als 260 Tausend Tote, rund 13 Millionen Menschen auf der Flucht, ein zerstörtes Land und zerstörte Infrastruktur“, zählte die Wissenschaftlerin auf.

Über den Schutz von geflüchteten Menschen vor geschlechtsspezifischer Gewalt referierte Tatjana Leinweber, Sozialwissenschaftlerin, Referentin für Gewaltschutz und Flucht. Sie zeigte an mehreren Beispielen eindrücklich auf, wieso Schutzkonzepte in Einrichtungen der Flüchtlingshilfe erforderlich sind und was sie beinhalten sollten. Sie berichtete von einem Gesetzgebungsverfahren, das voraussichtlich bis Anfang nächsten Jahres die Etablierung von Schutzkonzepten verbindlich vorschreibt.

Der wissenschaftliche Leiter des Fachtages, Dr. Peter Kramuschke, sprach über „Begegnungen – Möglichkeiten und Grenzen einmaliger therapeutischer Gespräch mit Geflüchteten“ Er beschrieb die Interaktion zwischen professionellen bzw. ehrenamtlichen Helfern und der Menschen mit Fluchtgeschichten, die oft von Offenheit und Neugierde auf der einen Seite und einem nicht verstehenden Verschließen auf der anderen Seite geprägt ist. Sehr eindrücklich schilderte er anhand von Fallbeispielen die Notwendigkeit, durch Flucht traumatisierten Menschen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Leider stünden dem heutzutage oft strukturelle Hindernisse des Hilfesystems und die verschärfte Gesetzteslage entgegen.
Vier Workshops boten den Fachleuten Gelegenheit für direkten fachlichen Austausch und Diskussion: Nora Hettich und Hauke Witzel vom Sigmund-Freud-Institut Frankfurt stellten unter dem Titel „Traumatische Erfahrungen von Geflüchteten und ihre Folgen“ Konzepte und Ergebnisse der Traumaforschung und Überlegungen zur Betreuung von Geflüchteten vor. Dr. Mirja Keller, Referentin am Zentrum Traumapädagogik Hanau, betreute den Workshop zum Thema „Flucht und Trauma – Geflüchtete Jugendliche in der Jugendhilfe“. Der Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Dr. Peter Kramuschke diskutierte nach seinem Kurzvortrag „Psychotherapie mit Geflüchteten in Erstaufnahmeeinrichtungen“ aktuelle Fälle aus der Praxis. Und Luise Sievers vom Evangelischen Zentrum für Beratung und Therapie am Weissen Stein in Frankfurt stellte mit Selamawit Tewelde die Frage „Psychosoziale Beratung von Geflüchteten mit Dolmetschern: Beratung zu Dritt – kann das funktionieren?“.

Zum Abschluss spielten Musiker des One world orchestras – einem Projekt der Lauterbacher Musikkulturschule unter Leitung von Herrn Scharrer mehrere Lieder und stellten so eindrücklich unter Beweis, wie durch Musik verloren gegangenes Vertrauen wieder zu wachsen beginnen kann.

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