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Ärztefortbildung Kindesmisshandlung zum elften Mal in Kassel

Kassel. Kindesmisshandlung ist nach wie vor ein großes Problem in Deutschland. 2011 starben beispielsweise 146 Kinder unter 14 Jahren an den Folgen von Gewalt und Vernachlässigung, heißt es in der Jahresstatistik des Bundeskriminalamtes. 114 der getöteten Kinder waren jünger als sechs Jahre. Gerade bei Kleinkindern tragen Ärzte eine große Verantwortung, weil sie häufig die einzigen außerfamiliären fachlichen Kontakte sind, solange die Kleinen noch nicht in den Kindergarten gehen. Deshalb bietet Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (DGfPI) seit elf Jahren eine bundesweit einmalige Fortbildung für Ärzte an. Die diesjährige Tagung findet am 15. und 16. März im Klinikum Kassel statt und wird von der Techniker Krankenkasse (TK) in Hessen unterstützt.

Für Ärzte sei es sehr schwierig, Kindesmissbrauch und -misshandlung zu erkennen, sagt Dr. Bernhard Herrmann vom Klinikum Kassel, der die Veranstaltung organisiert. „Das liegt vor allem daran, dass diese Themen im Medizinstudium und bei der Ausbildung zum Facharzt bisher keine Rolle spielen. Bis 2008 gab es noch nicht einmal ein deutschsprachiges Fachbuch dazu.“ Die Kasseler Ärztefortbildung hat das Ziel, das nachzuholen, was in den Vorlesungen der Universitäten fehlt. Die Mediziner sollen dort lernen, mit geschultem Blick die Spuren von Misshandlung erkennen. „Viele Ärzte sind bei den Themen Kindesmisshandlung und -missbrauch stark verunsichert. Schließlich wollen die Mediziner Eltern nicht zu Unrecht beschuldigen“, sagt Dr. Barbara Voß, Leiterin der TK-Landesvertretung Hessen. Die Ärztefortbildung leiste einen wichtigen Beitrag, diese Unsicherheiten abzubauen und darüber aufzuklären, wie im Verdachtsfall zu handeln sei. „Deshalb unterstützt die TK die Veranstaltungsreihe schon seit vielen Jahren.“

Organisator Dr. Bernhard Herrmann ist Oberarzt an der Kinderklinik im Klinikum Kassel. Seit 1992 befasst er sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Kindesmisshandlung und hat seitdem viele schreckliche Schicksale erlebt. „Der Fall eines Babys, das mit enormen Hirnblutungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, ist mir deutlich im Gedächtnis geblieben“, erinnert er sich. Am zwei Monate alten Säugling habe er ein schweres Schütteltrauma diagnostiziert. „Die Schäden waren so schlimm, dass das Kind wohl für immer behindert bleiben wird. Die alleine als Verursacher in Frage kommenden Eltern haben nicht nur abgestritten, sondern versucht, uns Ärzte massiv unter Druck zu setzen.“ Das Baby sei inzwischen aus der Familie genommen worden. Das Gerichtsverfahren gegen die Eltern laufe noch.

„Auch wenn die Fälle manchmal schwierig sind, dürfen die Ärzte ihre Augen nicht vor Misshandlung verschließen“, sagt Dr. Voß. Im neuen Bundeskinderschutzgesetz, das im Januar 2012 in Kraft getreten ist, werden Mediziner beim Thema Kinderschutz zudem stärker in die Pflicht genommen. „Sie sollen handeln, wenn sie Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung feststellen und sind auch befugt, das Jugendamt zu informieren“, so Dr. Voß. Die Ärztefortbildung in Kassel leiste einen großen Beitrag. Die Ärzte lernen dort unter anderem, welche Verletzungen auf Misshandlungen hindeuten und wie sich Kinder verhalten, denen sexuelle Gewalt widerfahren ist.

Seit der ersten Fortbildung im Jahr 2003 wurden rund 1000 Kinderärzte, Kinderchirurgen, Frauenärzte und Rechtsmediziner aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und Italien in Kassel ausgebildet. Die Veranstaltung entwickelt sich dabei stets weiter. Seit zwei Jahren steht unter anderem das Thema „Sexuelle Übergriffe im Chat“ auf dem Programm. „Im Internet ist es leicht, sich als Kind auszugeben, um so das Vertrauen von echten Kindern zu erschleichen und sie zu einem Treffen zu überreden“, sagt Dr. Herrmann. Vielen seiner Kollegen seien die Gefahren der neuen Medien noch nicht bewusst. „Aufgeklärte Ärzte könnten beispielsweise das Thema bei den Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen ansprechen und auf diesem Weg die kleinen Patienten warnen.“

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