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„Persönlichkeitsentwicklung ist die Balance von Eigensinn und Gemeinsinn“

Fachbereichsleiterin Marion Göhler (links) dankte der Festrednerin Daniela Kobelt-Neuhaus für den wissenschaftlichen Vortrag, in dem sie die pädagogische Arbeit der Vogelsbergschule sehr gelobt hatte. Foto: Erich Ruhl

Fachbereichsleiterin Marion Göhler (links) dankte der Festrednerin Daniela Kobelt-Neuhaus für den wissenschaftlichen Vortrag, in dem sie die pädagogische Arbeit der Vogelsbergschule sehr gelobt hatte. Foto: Erich Ruhl

Lauterbach. „Wer das Problem erkennt, der wird auch das Ziel und den Weg dorthin erkennen.“ Diese These stellte Daniela Kobelt-Neuhaus in einem Vortrag in der Lauterbacher Sparkassen-Aula in den Raum. Die renommierte Pädagogin war Festrednerin im Rahmen der Jubiläumsfeier „20 Jahre Fachschule für Sozialpädagogik“ in Lauterbach (wir berichteten). Die Lauterbacher Bildungsstätte hat in der Fachwelt einen ausgezeichneten Ruf. Seit ihrer Gründung 1994 wurden dort über 800 Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet und auf einen persönlichkeitsstärkenden Umgang mit den Kindern in Kindertageseinrichtungen vorbereitet, wie die Referentin betonte. Die aus der Schweiz stammende Psychologin und Heilpädagogin ist im Vorstand der Karl-Kübel-Stiftung in Bensheim wissenschaftlich tätig.

Das Konzept, das in Lauterbach im Rahmen der  Ausbildung angewandt wird, ist der sogenannte „Situationsansatz“. Er entstand bereits in den 1970-er Jahren, wurde mehrfach wissenschaftlich verändert – und hat doch seinen Kern behalten: In einer humanistischen, gewaltfreien, wertschätzenden und persönlichkeitsstärkenden Weise mit den ständig wechselnden Anforderungen im Umgang mit den Kindern situationsgerecht umgehen. Denn nichts ist wirklich verlässlich gleich. Alles verändert sich. Daher heißt es, stets offen sein, stets lernwillig sein, zugewandt, mitfühlend – aber unverzichtbar mit großem Wissen ausgestattet. Dann könne Pädagogik gelingen, dann könne sie wirklich mehr sein als beaufsichtigen, lenken und konditionieren. „Persönlichkeitsentwicklung ist die Balance von Eigensinn und Gemeinsinn“, sagte Kobelt-Neuhaus. Sie betonte, dass dieses Konzept für die Arbeit mit Kindern entwickelt wurde und zeigte sich erfreut, dass die Lauterbacher Schule eine Form gefunden habe, auch die Ausbildung in dieser Weise auszurichten.

Der Situationsansatz stelle sich vor allem als eine „Kompetenzmethode“ dar, so Frau Kobelt-Neuhaus. Ziel der Erzieherinnenausbildung – zum Beispiel in der Lauterbacher Fachschule – sei das prozesshafte und ganzheitliche Herstellen einer beruflichen Handlungskompetenz, die die Autonomie, die Solidarität und die Kompetenz der Menschen stärken soll.

Die frühe Bildung hänge stark mit der frühen Bindung sowohl an die Eltern als auch an weitere verlässliche und humanistisch geprägte Erziehungspersonen zusammen. Längst sei auch in der Volkswirtschaftslehre angekommen, dass sich ein Land nicht leisten könne, auf Talente zu verzichten. Die jahrelange Debatte um die sogenannte Pisa-Studie sei hier ein starkes Merkmal.

Die Lebenswelt wirklichkeitsnah erkennen und den Sozialraum berücksichtigen, in welchem sowohl die Ausbildung als auch die Bildung der Kinder erfolgt, dies seien wesentliche Voraussetzung für gelingende Erziehung. Darüber hinaus gelte es, Partizipation glaubwürdig zu integrieren, Vorbild zu sein sowie Gleichheit und Persönlichkeitsunterschiede gleichermaßen wertzuschätzen. Das sei der in Lauterbach seit 20 Jahren erfolgreich beschrittene Weg, sowohl aus den Erzieherinnen und Erziehern als auch aus den Kindern mündige demokratische Staatsbürger zu machen, hob die Referentin hervor.

Im Sinne des Situationsansatzes zu agieren bedeute für kompetente Erzieherinnen nicht, „spontan“ und schon gar nicht „spielerisch“ zu handeln – ganz im Gegenteil. Die erlernte Kompetenz bestehe gerade darin, Schlüsselsituationen klar und schnell zu erkennen, zu analysieren, die Lage des Kindes adäquat und achtsam einzuschätzen und dann motivationsstärkende Angebote zu machen, „fesselnde Impulse“ zu setzen, statt zu regulieren. Dies erfordere natürlich hinreichend Personal in den Einrichtungen und hinreichend kleine Gruppen. „Die Selbstgewissheit und die Selbstwirksamkeit sowie die  Sozialkompetenz der Erzieherin sind es, an denen sich die Kinder in einer konflikthaften Situation aufrichten können. Genau dort findet Persönlichkeitsentwicklung statt“, beschrieb Frau Kobelt-Neuhaus das Besondere an diesem pädagogischen Konzept.

Die gedeihliche Entwicklung der Kinder brauche wache, gut ausgebildete und gut gebildete Erzieherinnen und Erzieher, kritische Staatsbürger, die die Demokratie als Prozess und „Veränderung als die einzig gesicherte Konstante begreifen“. Immer müsse man Fehler erwarten, und daher müssten die Erwartungen realistisch sein. Es gelte, den Tunnelblick zu verlassen, und nicht aufs Defizit, sondern besser auf die Möglichkeiten zu schauen, die immer – auch in einer schwierigen – Situation stecken. „Die Wirklichkeit ist halt meistens nicht so, wie es im Curriculum steht. Die Kompetenz besteht dann darin, alles verfügbare Wissen schnell heranzuziehen.“ Auf keinen Fall dürfe Zuwendung an Bedingungen geknüpft werden.

Daniela Kobelt-Neuhaus schloss ihre Glückwünsche für die Lauterbacher Schule für Sozialpädagogik mit dem Plädoyer, achtsame Kommunikation zu pflegen, aktiv zuzuhören, fair zu sein und unterschiedliche Temperamente, Talente und Ressourcen zu wertschätzen. Dann könne das Wesentliche entstehen: Die Balance von Eigensinn und Gemeinsinn.

Die Referentin übte klare Kritik an der sozialen Reputation und auch an der viel zu geringen Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern – angesichts der grundlegenden Bedeutung für Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung. Die Fachbereichsleiterin Marion Göhler dankte für Kobelt-Neuhaus‘ Appell zu einem „Lernen auf Augenhöhe“ und für ihr offenbartes tiefes Verständnis für Humanismus und Demokratie.

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